sans papiers

SANS PAPIERS

52 Minuten. Produktion: Isabella Huser, Espaces Film GmbH, 2006.
Kamera: Matthias Kälin, Andrej Bezymenski, Séverine Barde, Milivoj Ivkovic.
Versionen: Deutsch und Französisch.
Sprecher deutsche Version: Bruno Ganz.
Sprecher französische Version: Jean-Luc Wey.
Koproduktionen: SF, TSR, 3sat, Teleproductions-Fonds, unterstützt vom Bundesamt für Kultur BAK. 

A film about «undocumented migrants» in Switzerland.
52 minutes, French, Spanish and German spoken.
German and french versions available.
Photography by Matthias Kälin, Andrej Bezymenski, Séverine Barde, Milivoj Ivkovic. 
A production by Isabella Huser, Espaces Film GmbH, 2006, co-produced by Swiss Public Broadcaster DRS, TSR and by 3sat, as well as by Teleproductions-Fonds, funded by Swiss Federal Department of Culture.

    

    

  • SFDRS, Redaktion DOK
Mai 2006. «Missverständnisse über Sans Papiers sind in der Schweiz verbreitet …»
  • NZZ, 8. Mai 2006
«In Andreas Hoesslis Film “Swiss Sans Papiers” erscheinen “clandestins” nun als Menschen mit Gesicht und Namen, mit Familie, mit fester Arbeit, …»
  • Andreas Hoessli: Auszüge aus Exposé, Januar 2005

SF, Redaktion DOK, Mai 2006
90’000 Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung leben und arbeiten laut einer Studie des Bundesamts für Migration in der Schweiz. Andreas Hoessli hat eine Reise in diesen seltsamen «Untergrund» unternommen. In der Deutschschweiz will niemand riskieren, offen vor der Kamera zu sprechen. In der Westschweiz ist die Stimmung toleranter, Sans Papiers sprechen über ihr Leben als «Illegale», über die Gründe, warum sie in die Schweiz gekommen sind – und über ihre Versuche, ihre Situation zu legalisieren. 

Missverständnisse
Delia, Jakup, Gabriela, Lourdes und Alfonso; Myriam und ihr Sohn Jan; Elena und ihre Töchter Dayana und Melissa: Sie sind seit 8, 12, 14 Jahren in der Schweiz. Jakup arbeitet in den Weinbergen am Genfersee, Lourdes als Putzfrau, Alfonso als Fotograf, Myriam pflegt alte und behinderte Menschen, Elena arbeitet in einem Hotel in Genf. Gabriela ist 17 Jahre alt und Schülerin. In einer Primarschulklasse in Lausanne gehen auch Kinder von Sans Papiers zur Schule, denen die Ausweisung droht. Erstaunliche Szenen, wenn Kinder über den Lebensalltag von Sans Papiers nachdenken und über einen Mitschüler sprechen, der plötzlich nicht mehr zur Schule kam. 
Missverständisse über Sans Papiers sind in der Schweiz verbreitet – und werden auch bewusst geschürt. Oft gelten sie als Kriminelle, Schwarzarbeiter, Asylbewerber oder Drogenhändler. 
Sans Papiers sind aber Menschen, die in die Schweiz gereist sind und hier Arbeit gefunden haben – weil es Arbeit gibt. Sie arbeiten als Hausangestellte, Altenpflegerinnen, Kinderfrauen, in Hotels oder Restaurants, in der Landwirtschaft, in der Bauwirtschaft. Die Mehrheit der Sans Papiers in der Schweiz sind Frauen. Sie beziehen keine Sozialleistungen. Sie haben kein Asylgesuch gestellt. Viele bezahlen – über ihre Arbeitgeber – Sozialabgaben und Quellensteuer. Sie stammen aus Ländern ausserhalb der Europäischen Union: aus Lateinamerika, den Philippinen, aus Serbien-Montenegro, Mazedonien. Darum können sie nach Gesetz in der Schweiz keine Arbeitsbewilligung erhalten – denn sie gehören zum «Zweiten Kreis». Arbeitsbewilligungen an Bürgerinnen und Bürger dieser Staaten werden nur im Fall von hochqualifizierten Fachleuten erteilt. 

Versuche, das Leben in der Schweiz zu legalisieren

Andreas Hoessli hat für seinen Film von Oktober 2004 bis Februar 2006 recherchiert und in mehreren Etappen gedreht. In der Deutschschweiz wollte, mit einer Ausnahme, niemand riskieren, gefilmt zu werden. In der Westschweiz ist die Stimmung toleranter, Sans Papiers treten offener auf. Im Film werden auch ihre Versuche dokumentiert, ihr Leben in der Schweiz zu legalisieren. Ihre einzige Möglichkeit: Ein Gesuch um Aufenthaltsbewilligung aus «humanitären Gründen». Die Gesuchsteller müssen nachweisen, dass eine Rückkehr «nicht zumutbar» ist. Doch das ist sehr schwierig. Die Gesuche gehen über die Kantone bis zum Bundesamt für Migration. Rekursmöglichkeiten gibt es zwar, doch sind sie meistens chancenlos. Die Genfer möchten jetzt einen anderen Weg gehen. Die Genfer Regierung beantragt, 5000 Sans Papiers, die mit Arbeitsverträgen im Haushaltsektor arbeiten, in einer befristeten Aktion zu legalisieren. Ohne Legalisierung sei ein ganzer Wirtschaftssektor ausser Kontrolle, sagen die Experten. Die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Sektor nimmt laufend zu. In Genf sind es schon heute 5 Prozent der Arbeitsstellen. Aus anderen Kantonen liegen keine Statistiken vor. 
Die Arbeitgeberverbände und sämtliche Parteien – auch die SVP – unterstützen in Genf den Vorschlag der Regierung zur Legalisierung der Sans Papiers. Der Antrag der Genfer Regierung liegt seit dem 19. Januar 2005 beim Bundesrat. Eine Antwort aus Bern ist bisher nicht erfolgt.

NZZ, 8. Mai 2006Sans-Papiers treten aus dem Schatten 
C. W. Die Bezeichnung ist missverständlich und bagatellisiert die Rechtssituation: Sans Papiers haben in der Regel durchaus Identitätspapiere (anders als viele Asylsuchende), aber keine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung. Über das Ausmass dieses Teils der illegalen Immigration und der Schattenwirtschaft lässt sich spekulieren; eine in offiziellem Auftrag erstellte Studie ergab aufgrund von Schätzungen für die Schweiz eine Zahl von 80 000 bis 100 000 Personen. In Andreas Hoesslis Film «Swiss Sans Papiers» erscheinen «clandestins» nun als Menschen mit Gesicht und Namen, mit Familie, mit fester Arbeit, mit Zielen und natürlich mit Sorgen. Die Gespräche waren vor allem in der Westschweiz möglich, wo den gezwungenermassen unauffälligen Papierlosen mit einiger Toleranz begegnet wird. Die gezeigten Personen hatten Gesuche um eine Härtefallbewilligung eingereicht – ohne Erfolg. 

In dem gewählten Ausschnitt aus dieser meist verborgenen oder verdrängten Welt sieht man keine jungen Abenteurer oder Desperados, sondern etwa einen 55-jährigen Mann aus Kosovo, der im Weinbau Geld für seine elf Kinder verdient, und mehrere Frauen aus Südamerika, die meist seit vielen Jahren im Gastgewerbe oder in der Pflege tätig sind. Sie beklage sich nicht über ihr früheres Leben, wo man alles aus der Not heraus gemacht habe, aber sie wolle nicht, dass ihre Töchter aufwüchsen wie sie, erklärt die aus einem Dorf in Kolumbien stammende Elena. Das eine Mädchen lebt nun in einem Behindertenzentrum, das andere wird ins Gymnasium eintreten. 

Immer wieder vermittelt der Film den Eindruck einer gewissen Normalität. Er sei gerne hier, sagt der Kosovo-Albaner. Als glücklich bezeichnet sich eine Jugendliche aus Ecuador, die mit ihrer Mutter in der Schweiz lebt. Aber sie bejaht, dass sie Angst vor der Polizei habe, und eine Peruanerin macht deutlich, dass sie dort, sollte es einmal nötig sein, keine Hilfe suchen könnte. Offen, aber bedrückt wird in einer Primarklasse über einen Kameraden gesprochen, der nicht mehr in die Schule kommt und sich versteckt hält oder ausgereist ist. Zwei der Porträtierten haben dem Druck nachgegeben und das Land verlassen. 

Seitens der Behörden kommt nur die Genfer Staatsrätin Martine Brunschwig Graf zu Wort. Ihr Kanton hat Bundesrat Blocher eine Legalisierung des Aufenthalts von 5000 Hausangestellten vorgeschlagen – nicht als humanitäre Aktion, sondern um in diesem Arbeitsmarktsektor Ordnung zu schaffen, wie ein Gewerkschafter sagt. Es gebe drei Möglichkeiten, hält die liberale Politikerin fest: die Suche einer «Lösung», Ausweisungen oder «die Augen verschliessen». Beizufügen ist die Variante einer Kombination, wobei um das Gewicht der einzelnen Komponenten zu streiten wäre. Der heutige Zustand bedeutet neben den menschlichen Belastungen eine amtliche Schizophrenie: Der Staat besteuert, versichert, unterrichtet und verheiratet Personen, deren Aufenthalt er verboten hat.

Andreas Hoessli: Auszüge aus ExposéJanuar 2005
An einem frühen Morgen im Sommer 2004 wird Delia Flores auf dem Arbeitsweg von Polizisten angehalten. Sie hat keine Ausweispapiere. Sie lebe in Italien, wo sie auch Ihre Papiere aufbewahre, sagt sie, sie sei in den falschen Zug eingestiegen und so in die Schweiz gekommen. Die Polizei verhaftet Delia Flores wegen illegalen Aufenthaltes in der Schweiz. Bei der Einvernahme sagt Delia Flores, sie sei geschieden, habe keine Kinder, ihr Heimatstaat sei Bolivien. Das Migrationsamt beantragt Ausschaffungshaft und direkte Ausschaffung nach Bolivien. Bis Delia Flores in der Haft zusammenbricht, sich für die bisherigen falschen Aussagen entschuldigt und folgendes zu Protokoll gibt: Ich bin seit 15 Jahren in der Schweiz, habe von Anfang an als Babysitterin und Putzfrau gearbeitet. Ich habe in der Schweiz meinen Mann Celso Quispe kennengelernt und geheiratet. Wir haben drei Kinder, die Töchter gehen in die Primarschule, der jüngste ist zuhause. Die Polizei meldet die neuen Aussagen dem Migrationsamt, das den Antrag auf Ausschaffungshaft zurückzieht. Delia Flores bleibt noch zwei Tage in Haft, wird dann freigelassen; mit Hilfe von Freunden und einer Anwältin beantragt sie eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen für sich, ihren Mann und ihre Kinder. Der Antrag wird abgelehnt, das Migrationsamt verfügt die Ausreise der Familie Quispe bis spätestens Ende November 2004. Arbeitgeber, Lehrerinnen, eine Sozialarbeiterin beginnen sich für die Familie Flores-Quispe einzusetzen. Jetzige und frühere Arbeitgeber denunzieren sich selbst bei der Polizei, eine «Illegale» beschäftigt zu haben, werden gebüsst. Ein Rekurs wird eingereicht, eine Antwort steht bis jetzt noch aus. Das Fernsehen DRS berichtet: Eine Bolivianerin ist seit 15 Jahren in der Schweiz, die Polizei merkt nichts, ihre Kinder gehen in die Primarschule, die Behörden merken nichts, wie ist das möglich? 
Delia Flores Quispe und ihre Familie ist kein Ausnahmefall. Wissenschaftliche Studien schätzen die Zahl der Sans Papiers in der Schweiz auf 200’000 bis 300’000. In Städten mit grossen Agglomerationen wie Basel, Genf oder Zürich leben und arbeiten einige Zehntausend Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung. Viele von ihnen sind seit fünf, zehn, fünfzehn Jahren in der Schweiz. Mit ihrem bolivianischen, equatorianischen, brasilianischen oder peruanischen Pass sind sie ganz legal in die Schweiz eingereist. Und viele haben sich wie Delia Flores von ihren Heimatländern aus eine Stelle in der Schweiz gesichert – bevor sie noch ins Flugzeug stiegen. Wie Untersuchungen über Sans Papiers zeigen, sind es oft «modernistische» Motivationen, die hinter den Reisebewegungen der Sans Papiers (nicht nur in die Schweiz) stehen. Delia Flores sagte mir, sie hätte ihr Leben nicht so verbringen wollen wie ihre sieben Brüder und Schwestern: Mit 15, 16, spätestens 17 sind sie alle schon Mütter und Väter, die Mütter bleiben zuhause; der Vater betrinkt sich, schlägt seine Frau; mit 30 sind sie alt, die Familie arm, die Kinder müssen arbeiten, leben auf der Strasse. 
Die Kinder von Sans Papiers in der Schweiz gehen zur Schule, dazu haben sie das gesetzlich verankerte Recht. Das gilt seit den letzten Jahren des Saisonnier-Statutes, als viele Frauen mit den Kindern ihren Männern in die Schweiz nachfolgten und das Elend der «versteckten Kinder» publik wurde. Das Schicksal der Kinder von Sans-Papiers ist trotzdem bis heute tabuisiert. Das hat viele Gründe: Die Eltern wollen nicht, dass die Kinder in der Schule von zuhause erzählen, davon, womit ihre Eltern ihr Leben verdienen; die Kinder dürfen keine Freunde nach Hause bringen – niemand soll wissen, wo sie leben, denn sonst weiss es bald die Polizei. 
Nach der Freilassung von Delia Flores aus der Polizeihaft meldete sich eine Häuserbesitzerin, sie bot der Familie eine schöne Wohnung zu herabgesetztem Preis an. Eine schöne Wohnung zu haben, das war eine Premiere, vor allem für die Kinder. Ein Schild an der Wohnungstüre mit dem wirklichen Namen war bis dahin absolut unvorstellbar gewesen. Die älteste Tochter von Delia Flores fragt immer wieder, ob dieses Namensschild bleiben wird. 
Dass das Schicksal der Kinder von Sans-Papiers bis heute tabuisiert wird, liegt vor allem an der öffentlichen «Stimmungslage» in der Schweiz: Die Lehrer und Lehrerinnen, die Schulbehörden, die Sozialarbeiter bis hin zu den freiwilligen Helfern wollen vermeiden, dass in der Oeffentlichkeit bekannt wird, wieviele Kinder von Sans Papiers in den einzelnen Schulen sind. Was wäre die Folge, wenn bekannt würde, dass im Schulhaus XY in Zürich 23 Kinder von Sans Papiers zur Schule gehen? 
Wenn man morgens um neun in Genf einen Pendlerzug Richtung Lausanne besteigt, wird man an jeder Station Frauen aus Equador, Bolivien oder Kolumbien, manche auch aus dem Kosova oder der Elfenbeinküste aussteigen sehen, sie sind unterwegs zu den Wohnungen und Villen von Schweizern, um dort zu putzen; irgendwann später wird man sie wieder am Bahnhof sehen, auf den Zug wartend. Man weiss, dass es «Sans Papiers» sind, die ihrer normalen Arbeit nachgehen. Das heisst, man «weiss» es, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass es zur «normalen Schweiz» gehört, dass Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung einen wichtigen Sektor des Wirtschaftslebens in diesem Land ausmachen. 
Darüber möchte ich einen Film realisieren – in Form einer Reise durch die unbekannten Gefilde der «anderen Welt», eine Reise in einen öffentlichen Untergrund, der in der Schweiz wie in jedem anderen industrialisierten Land zur Normalität geworden ist; eine Normalität, die jedoch wie der Ausdruck eines kriminellen Untergrundes behandelt wird. 

Leben im Untergrund
Zürich. Delia Flores ist entschlossen, in der Schweiz zu bleiben. Wenn der Rekurs abgelehnt wird, wenn die Anweisung zur Ausreise aus der Schweiz aufrechterhalten bleibt, geht Delia ins Kirchenasyl. Freunde haben davon gesprochen, sie weiss nicht genau, was das bedeutet, aber es wird sich etwas finden, denn seit ihrer Verhaftung sind ehemalige Arbeitgeberinnen zu Freundinnen geworden, die ihr helfen werden. Seit der Verhaftung ist Delia selbstsicherer und auch ruhiger geworden. Es ist geschehen, wovor sie die ganze Zeit Angst hatte. Das kann nicht rückgängig gemacht werden. Ihr Name steht in Polizeidossiers, auch der ihres Ehemannes, ihrer drei Kinder. 
Bei der Verhaftung fand die Polizei in Delias Tasche kleine Zettel mit deutschen und spanischen Wörtern. Die Polizisten glaubten daher von Anfang an nicht daran, die Verhaftete sei erst seit ein paar Tagen in der Schweiz. Delia Flores lernt seit Jahren mit dieser Methode Deutsch: Sie notiert Wörter auf kleine Zettel, lernt im Bus oder Tram, unterwegs. 
Als sie in die Schweiz kam, war Delia Flores 23 Jahre alt. Ihren Mann Celso hat sie am Hauptbahnhof von Zürich kennengelernt, wo sie regelmässig hinging, um mit ihrer Mutter in Bolivien zu telefonieren. Celso Quispe lebte zuerst in Frankreich, kam in die Schweiz, trug auf Strassen und Plätzen Lieder vor, verdiente sich so sein Leben, spielte und sang auch im Bahnhof von Zürich. Delia Flores und Celso Quispe zogen zusammen in eine Wohnung in Zürich. 1995 kam die älteste Tochter Evelyn zur Welt – in einem Spital in Zürich. Die zweite Tochter Yvett und ihr Sohn Ivan hat Delia in Bolivien geboren, wo sie sich seit ihrer ersten Einreise in die Schweiz drei Mal aufhielt. Das wird bei der Ablehnung des Aufenthaltsgesuches durch das Migrationsamt des Kantons Zürich als Hauptargument verwendet: Delia Flores, ihr Mann Celso Quispe und die Kinder besuchten drei Mal ihr Heimatland Bolivien. Die Kinder sprechen auch Spanisch. Eine Rückkehr kann ihnen also zugemutet werden, es liegt kein Härtefall vor. 
Delia Quispe ist heute 38 Jahre alt, ihr Mann Celso 42, und sie wollen nicht zurückkehren. Sie haben eine unbeschreibliche Angst davor, sagt Delia. Auch davor, was mit den Kindern geschieht. Evelyn, die älteste Tochter, stellt Fragen. Sie weiss nicht genau, worum es geht; sie versteht nicht, warum sie nicht selbstverständlich in der Schweiz bleiben kann. Irgendetwas ist für Evelyn, auch für ihre jüngere Schwester, bedrohlich, sagt die Mutter – die mit den Kindern nicht offen darüber sprechen kann. Sie will alles tun, um ihnen die Angst zu nehmen, sagt Delia. Sie hat Gewissensbisse, weil die Kinder ihretwegen gelitten hätten. Zum Beispiel dadurch, dass sie die Wohnadresse geheim halten mussten. Die Kinder mussten grossen Stress aushalten, sagt die Mutter. Zum Beispiel, als Evelyns Lehrerin mit der ganzen Klasse von Haus zu Haus ging; man würde bei allen zuhause reinschauen. Evelyn kann die Adresse nicht angeben. Sie gibt die Postadresse an, wo sie nicht wohnen, und dort ist natürlich niemand, niemand öffnet. Oder damals, als sie in einem Haus wohnten, wo Dealer und Zuhälter verkehrten, ab und zu die Polizei auftauchte; Delia schärfte den Kindern ein, sich still zu verhalten und die Türe nicht zu öffnen, wenn jemand klingelt. 
Die Töchter fragen manchmal, wer denn über sie entscheiden werde. Wer entscheidet, ob sie bleiben können. Delia Flores versucht dann, sie zu beruhigen. Ja, sie können bleiben, es brauche aber noch eine definitive Bewilligung. Die Kinder wollen nicht nach Bolivien. Sie waren dort, haben Angst, vor der Gewalt, vor den elenden Verhältnissen in der Schule (die sie einmal mit den Kindern ihrer Tante besuchten), wo es nicht genügend Bleistifte gibt. Und Delia Flores sagt, wenn sie zurückkehren müssten, so würde das bedeuten, sie selbst müsse zu Hause bleiben, das gehöre zur Normalität, ihr Mann müsse Geld anschaffen, irgendeine Arbeit suchen, wo es keine Arbeit gibt. Sie wolle ihr eigenes Leben leben, auch ihre eigene Arbeit haben, darum sei sie weggegangen. 
Delia Flores und ihr Mann Celso Quispe haben in den vergangenen 15 Jahren ihren Lebensunterhalt in der Schweiz ohne fremde Hilfe verdient. Celso arbeitet als Musiker, hilft in Restaurantküchen aus, Delia arbeitet als Haushaltshilfe, Putzfrau, Kinderbetreuerin. Ihre Arbeitgeber sind Akademikerinnen, Journalistinnen, Frauen, die Karriere machen, Kinder haben, jemanden brauchen, der sich um die Kinder kümmert. Delia Flores ist der typische Fall, der in den Statistiken und Untersuchungen über Sans-Papiers in allen europäischen Ländern beschrieben wird: Die Gesellschaften modernisieren sich, Frauen emanzipieren sich, erhalten wichtigere Stellungen in der Gesellschaft, es entsteht ein Arbeitsmarkt für Frauen und Männer, die in die Lücken springen. Diese Frauen und Männer kommen aus Lateinamerika, aus Afrika, aus Asien. Sie gehören zum normalen Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft in Zürich wie in Berlin, Genf oder Lausanne. Aber man behandelt sie, wie wenn sie zu einem kriminellen Untergrund gehörten, der mit harten polizeistaatlichen Mitteln zurückgedrängt werden muss. 

Begegnungen in der Westschweiz
Ein Fall Delia Flores Quispe würde in der Westschweiz anders ablaufen, sagt A.A., Peruaner, Innenarchitekt, seit 9 Jahren illegal in der Schweiz. Ja, man sei sich bewusst, dass zwischen der West- und der Deutschschweiz grosse Unterschiede bestehen. In Zürich werden von der Kantonsregierung praktisch keine Anträge zur Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen nach Bern eingereicht. Im Kanton Waadt ist das anders. Sein Dossier zur Legalisierung («Regularisierung» genannt) wurde zusammen mit Dossiers von 1000 anderen Sans-Papiers vom Kanton Waadt nach Bern ins «Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung» geschickt – mit Antrag auf positive Beurteilung. Bern hat das Gesuch des Kantons Waadt abgelehnt – A.A. wird nicht legalisiert. Trotzdem habe er keine Angst, sagt A.: Er wurde noch nie von der Polizei kontrolliert, auch nicht seine Frau L., die wie viele Sans-Papiers in Lausanne aus Equador stammt und seit 13 Jahren in der Schweiz lebt und arbeitet. 
A.A. hat in Lausanne Architektur studiert und hier seine Frau L. kennengelernt; sie haben vor 6 Jahren in Lausanne geheiratet. Kinder haben sie keine – noch nicht. Vielleicht, sagt A., werden wir uns für Kinder entscheiden, wenn wir wissen, dass wir bleiben können. A. arbeitet als Bodenleger, seine Frau für ein Reinigungsunternehmen. Ihre Sozialversicherungen und Abgaben sind die gleichen wie jene von Schweizer Arbeitnehmern: Die Arbeitgeber zahlen AHV, Pensionskasse; A. und L. sind bei einer Krankenkasse versichert; sie zahlen Steuern; der einzige Unterschied zu den Schweizern ist: A. und L. haben keine Aufenthaltsgenehmigung. Sie sind rechtswidrig in der Schweiz. 
Ihre besten Freunde sind R.T. und C.N.. Beide stammen aus Equador, wie A.’s Frau L.. C.N. kam vor 10 Jahren in die Schweiz, R.T. kam ein Jahr später. Sie haben einen achtjährigen Sohn und eine 9-jährige Tochter, die in Lausanne die Schule besuchen. C. arbeitet in Haushalten, als Kinderbetreuerin, R. als Kellner in einem Restaurant der gehobenen Klasse in Lausanne. Sie waren in eine Polizeikontrolle geraten, sollten ausgeschafft werden, stellten das Gesuch um eine Aufenthaltsbewilligung. Das Gesuch wurde vom Kanton unterstützt, Bern lehnte ab. Was jetzt sein wird, wissen sie nicht. Sie wollen nicht zurück. Umso mehr, als von C.s weiterer Familie um die 20 Personen am Genfersee leben – zum Teil illegal, zum Teil mit Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung. 
C.N.: Heute habe ich weniger Angst als früher, als wir noch kein Gesuch gestellt hatten. Natürlich, jetzt kennt uns die Polizei. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass sie uns abholen und in ein Flugzeug stecken werden. 
R.T.: Die Lehrer unserer Kinder unterstützen uns. Und auch die Arbeitgeber. Ja natürlich, Sie können mit den Lehrerinnen reden. Das ist alles offen hier.

A.A.: Vor drei Wochen wollte die Polizei einen Flüchtling aus Cote d’Ivoire abholen, der einen Asylantrag gestellt und einen negativen Entscheid erhalten hatte. In kurzer Zeit kamen ein paar hundert Leute zu seinem Haus, von Freunden mobilisiert. Die Polizei hat sich zurückgezogen. Der Mann ist noch hier. 
A. kennt hunderte von «Illegalen», weil er auch im Komitee der Sans-Papiers ein aktives Mitglied ist, und weil er anderen hilft, wenn sie in Schwierigkeiten sind – manchmal auch finanziell. Er ist bekannt, weil er seit zwei Jahren mit seiner DV-Kamera Interviews auf den Strassen macht: Er befragt Sans-Papiers zu ihrem Leben in der Schweiz, und er befragt Schweizer zum Thema der papierlosen Ausländerinnen und Ausländer. Man kennt A. auch als Mitorganisator des Karnevals von Lausanne, und als Architekt eines preisgekrönten Karneval-Fahrzeuges der Equadorianer-Vereinigung von Lausanne. 
Für Kinder von Sans Papiers ist die Situation besonders schwierig, sagt A., vor allem nach der obligatorischen Schulzeit. Kein Gymnasium darf sie aufnehmen, kein Betrieb darf sie als Lehrlinge anstellen. Das Recht der Kinder der Sans-Papiers auf Schulbildung hört nach zehn Schuljahren auf. A. sucht einen Atelierraum, um ein einfaches Videostudio einzurichten: wo Jugendliche die Arbeit mit der Videokamera und am Schneidecomputer lernen können. Sie könnten so auch mehr über das Land erfahren, in dem sie aufgewachsen sind, sagt A.. Vielleicht eröffneten sich auf diesem Wege auch Möglichkeiten für Lehr- und Arbeitsstellen. 
In Lausanne wurde vor kurzem ein equadorianisches Konsulat eröffnet, da in der Waadt aussergewöhnlich viele equadorianische Staatsbürger leben. Offiziell sind 350 Personen angemeldet. Der Konsul ist sich bewusst, dass dies nur einem Bruchteil seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Schweiz entspricht. Gemäss einer Studie leben im Kanton Waadt 4000 equadorianische Staatsbürger, 95 Prozent ohne Aufenthaltsbewilligungen. Alleine in der Stadt Lausanne sind es nach Schätzungen der Behörden 2000 Männer, Frauen und Kinder aus Equador, die zu den Sans-Papiers gehören. 

Reise durch die Schweiz
Menschen wie Delia Quispe, C.N., A.A., R.T. gehören zu einer schweizerischen Realität. Auf Reisen durch die Schweiz habe ich etwa fünfzig Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung kennengelernt, deren Umfeld, deren Kinder, die ein «ganz normales Leben» führen – nur bewegen sie sich ausserhalb der gesetzlichen Bestimmungen des Ausländer- und Aufenthaltsrechts. Die meisten von ihnen sind vor Jahren in die Schweiz gekommen, hatten von Anfang an eine Arbeitsstelle, haben nie ein Asylgesuch gestellt, keine Sozialhilfe bezogen. Zu ihnen gehört auch Myriam Tobango aus der Demokratischen Republik Kongo, die seit 14 Jahren bei Fribourg lebt und mit ihrem Verdienst eine vielköpfige Familie in ihrem Heimatland unterstützt. Oder Henry Cardona, aus Kolumbien stammend, eine Art Sprecher der Sans Papiers in Genf, der seit 16 Jahren ohne Papiere in der Schweiz lebt; er hat die Radiostation “Zone 93.8” aufgebaut, die über die Probleme der Sans Papiers in der Region Genf/Waadt und im angrenzenden Frankreich berichtet. Oder Alexandr Peske, der mit 17 Jahren aus Tschetschenien in die Schweiz kam, mittlerweilen fliessend deutsch spricht, Schule, Lehre und Berufsmittelschule mit Bravour abschloss, die erste Zeitung für russische Emigranten in der Schweiz gründete; zur Zeit wartet er auf den Entscheid des Bundesgerichts; das Bundesamt beantragt, sein Gesuch um eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen sei abzulehnen. 
Oder L., eine Brasilianerin, die mit ihrem 11-jährigen Sohn in einem Städtchen am Genfersee lebt und in einem Nobelrestaurant arbeitet. Als ich sie zu einem Spaziergang durch die Kleinstadt Nyon traf, war sie von ihrem Sohn und ihrer Schwester begleitet; ihre Schwester, auch sie «ohne Papiere», folgte uns immer in einem Abstand von mindestens zwanzig Metern. Ihre Schwester habe eben immer Angst, der Polizei aufzufallen und kontrolliert zu werden, erklärte L.. Die Angst stand der Schwester ins Gesicht geschrieben. Auch ihre Schwester habe einen Sohn, sagte L., doch den habe sie nach Brasilien zu Verwandten zurückschicken müssen. Hier in der Schweiz habe der Junge nie mit anderen Kindern gespielt; wenn er von der Schule nach Hause kam, habe er sich in seinem Zimmer versteckt, und er sei mit der Zeit immer ängstlicher und verschlossener geworden. Von sich selbst sagt L., sie habe schon manchmal Angst, aber sie habe Glück gehabt, sei nie von der Polizei kontrolliert worden. Und ihr Sohn sei aufgeweckt und immer heiter, nur selten komme es vor, dass er sich in seinem Zimmer verstecke. 
Auf Reisen durch die Schweiz habe ich eine Welt entdeckt, die einem normalerweise unzugänglich bleibt. Ich habe Menschen aus Kamerun kennengelernt, aus Mazedonien, aus dem Kongo, aus Equador, Brasilien, Kolumbien, Kosova, Ungarn, Burkina Faso, der Elfenbeinküste, Polen, Chile. Sie arbeiten in Haushalten, als Kinderbetreuerinnen, in der Landwirtschaft, in einer Baufirma, in einer Reinigungsfirma, in Restaurants. Sie sind vor Jahren in die Schweiz eingereist, weil sie von Arbeitsstellen hörten oder bereits Zusagen für eine Arbeit hatten. Einige kamen als Asylbewerber, wurden abgewiesen, gingen weg, kamen nach einigen Jahren wieder, fanden Arbeit, blieben. Einige kamen als Saisonniers und arbeiteten legal in der Schweiz, bis das Saisonnierstatut 1992 abgeschafft und ihr Land (Kosovo, Serbien, Mazedonien) durch die Einführung des “Drei-Kreis-Modells” in die unterste Kategorie fiel und sie in der Schweiz keine Arbeitsbewilligung mehr erhalten konnten. 
Im «Centre Suisses-Immigrés» von Fribourg zeigte man mir eine Namensliste mit Sans-Papiers aus 48 Ländern. Als ich mit der Leiterin des Zentrums sprach, wurden wir durch einen Anruf aus dem Einwohnermeldeamt unterbrochen; ein Beamter hatte auf einem Rundgang die Belegung von Wohnungen in der Stadt kontrolliert. An einer Adresse fanden sich Bewohner, die keine Ausweispapiere vorweisen konnten – sie hatten nur einen behelfsmässigen Ausweis der Beratungsstelle für Sans-Papiers. Auf Drängen der Leiterin des Zentrums erklärte sich der Beamte am Telefon bereit, die Polizei vorläufig nicht einzuschalten; und falls er das doch tun müsste, würde er die Beratungsstelle vorher informieren, versprach der Beamte. 
Mirali Ibrahimi, Bauarbeiter aus Kosova, Sans-Papier seit 16 Jahren, besucht manchmal seinen Cousin in Zürich, der legal in der Schweiz lebt (mit einer Schweizerin verheiratet ist). Wenn er mit dem Zug nach Zürich reise, fühle er sich nach Fribourg immer verängtigt, eine Art Panik mache sich in ihm breit. Die Deutschschweiz, die nach Fribourg beginnt, ist für ihn eine Art Poliziestaat: Dort kannst Du keine zwei Tage herumlaufen, ohne dass Du von der Polizei angehalten wirst. Überall sind Polizeikontrollen. Mit seinem Cousin verbringt er die Zeit in dessen Wohnung, es kommt nicht vor, dass sie in eine Bar oder auf einen Spaziergang gehen – das ist für Mirali Ibrahimi zu gefährlich. 
Zwischen der Deutsch- und der Westschweiz tut sich tatsächlich ein Graben auf, was die Stimmung in der Bevölkerung und das Verhalten der Behörden gegenüber Sans Papiers betrifft. Der Kanton Waadt oder der Kanton Genf haben Gesuche um Aufenthaltsbewilligungen für Tausende von Sans Papiers unterstützt – der Kanton Zürich nach meinen Informationen nur dasjenige von Alexandr Peske. In der Deutschschweiz hat der Schulvorteher eines Kantons (Solothurn) sogar dazu aufgerufen, Schülerinnen und Schüler, die Kinder von Sans Papiers sind, bei der Polizei anzuzeigen. Seit sechs Monaten hat sich die Situation zusätzlich verhärtet: Vom «Bundesamt für Einwanderung, Integration und Auswanderung” wurden alle Gesuche der Kantone um Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen abgelehnt. 
Was ich bei allen Begegnungen feststellte: Der Stress für Sans Papiers in der Deutschschweiz ist viel grösser als in der Westschweiz. Zwar gibt es auch in der Deutschschweiz viele Lehrer, oder Arbeitgeber, Sozialarbeiter, die sich für die Familien von Sans Papiers einsetzen, meist aber erst, wenn die Ausschaffung unmittelbar droht. In Genf ist durch die Intervention von Gewerkschaften und durch die Bewegung der Sans Papiers eine Situation entstanden, in der Ausschaffungen von Sans Papiers mit einer “Procuration” – eine Art Schutzbrief der Gewerkschaften – praktisch ausgeschlossen sind. 

Bestandesaufnahme
Dieser Film soll eine Art Bestandesaufnahme darüber werden, wie in der Schweiz mit der Tatsache umgegangen wird, dass eine grosse Anzahl von “papierlosen” Menschen die Städte und Dörfer bevölkert, und einen bedeutenden Anteil an der arbeitenden Bevölkerung ausmacht. 
Ich möchte diesen Film in zwei Phasen im Jahre 2005 realisieren. Es sind rasche Umwälzungen zu erwarten, als Folge der härteren Gangart, die in der Ausländerpolitik von Bern eingeschlagen wird. Menschen, mit denen ich während meiner Recherchen sprach, werden das Land verlassen haben, werden in Ausschaffungshaft genommen werden, andere werden sich vielleicht in einen tieferen Untergrund begeben, sich in einigen Wochen in Kirchenzentren aufhalten, auch die politische Auseinandersetzung wird weitergehen, und es stellt sich die Frage, ob und wie diese härtere Politik in der Westschweiz durchgesetzt werden wird. 
«Papierlose» mit ihren Familien stehen im Mittelpunkt des Filmes. Und vor allem: Die Kinder von Sans Papiers sollen Zeit und Raum erhalten. Sie gehören zur «Normalität» des Lebens von Sans Papiers, und sie sind eine Art «Schnittstelle», an der sich die Welten der Sans Papiers und die Schweizer Alltagswelt berühren. 
Der Film ist als eine Reise durch diesen spezifischen schweizerischen «Untergrund» konzipiert. Die Reise soll in Städte und Dörfer führen, zu Gemeindekanzleien, Schulen, Baufirmen, Villen, wo Sans Papiers als Kinderbetreuer oder Putzerinnen arbeiten, zu Bauern, Tabakplantagen, Weingütern. Arbeitgeber, Schulleiter, Lehrerinnen sollen auch zu Wort kommen. Das wird in der Deutschschweiz schwieriger sein als in der Westschweiz. In Zürich, Basel oder Chur werden nur wenige Sans Papiers mit Gesicht und Namen auftreten wollen, und nur wenige Lehrerinnen, Arbeitgeber, Polizeibeamte. In Nyon, Lausanne oder Genf werden die Menschen offener sein. Zum Beipiel der Polizeichef einer Kleinstadt am Lac Léman, der sagte: die Probleme sind ungelöst, alles wird auf uns abgeschoben, wir sollen das irgendwie lösen – das kotzt uns an. Oder der Gemeindepräsident von B., der in seiner Verwaltung einen Sans-Papier angestellt hat. Oder der Weinbauer N.G. in der Höhe über dem Genfersee, der regelmässig Sans Papiers beschäftigt und sich auch für deren Rechte einsetzt. Oder der Bauunternehmer R., der einen Maurer aus Kosova beschäftigt, der schon 15 Jahre in seinem Betrieb arbeitet – er hat für ihn schon vor Jahren eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung verlangt, eine Antwort kam nie. Auch der Tabakbauer Fattebert, Vizepräsident der SVP Schweiz, der öffentlich zugegeben hat, dass er Sans Papiers beschäftigt, und betont, er habe nichts dagegen, dass diese in der Schweiz arbeiteten, solange es Arbeit habe – danach müssten sie aber sofort wieder ausreisen. 
Der Film soll nicht Parteinahme sein. Oder vielleicht in einem Punkt: Indem er sich an die Entdeckung einer Welt macht, die einerseits ein wichtiger Bestandteil dieses Landes und seiner Gesellschaft geworden ist (wie in allen industrialisierten Ländern), andererseits als eine Abweichung, als Untergrund, als Störung von Rechtssaatlichkeit und Kultur betrachtet und behandelt wird. Ob man dies wahrhaben will oder nicht: Die Sans Papiers sind eine Erscheinung der Globalisierung, der Oeffnung von Märkten, der Kulturen, der Ausweitung des Tourismus, des “Open Sky”, der veränderten Stellung der Frau, der Modernisierung unserer Gesellschaften, der gleichzeitigen Ausweitung von gewaltigen Distanzen des Reichtums. Geht man von diesen Mächten und Bewegungen aus, so ist kaum wahrscheinlich, dass die Sans Papiers in einiger Zeit einfach verschwunden sein werden, auch wenn sich in der Schweiz die Gesetze über Ausländer laufend verschärfen werden. 

Zürich, im Januar 2005, Andreas Hoessli

(Auszug aus dem Exposé vor Herstellung des Films)